Stadt oder… Der Aufstand des Besonderen

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1        Einleitung

Drei Fragen, erstens: Was ist Stadt? Zweitens: Was ist Kritik? Drittens: Leben »wir« in besetzten Städten? Die Arbeitsthese: Stadt ist nie nur besetzt, sowie nie ganz frei, Stadt ist mannigfaltig, sie trägt widersprüchliche Szenarien in sich. Frei sind »wir« (alle) nicht als vernünftige Wesen, sondern in unserer Besonderheit, am Ort der Nicht-Repräsentation.

2        Was ist Stadt?

Über Stadt nachdenken, bedeutet Vorstellungen vom Zusammenleben konkret werden zu lassen. Begriffliche Bestimmungen von Stadt bewegen sich immer innerhalb eines politischen Kontexts, den sie begrüßen. Stadt kann folglich ebenso als Unterdrückungsmaschine als auch als Freiheitsort gedacht werden. Hier soll über das Urbane als Lebensform gesprochen werden. Die Frage nach Formen der Repräsentation, nach gewollten und aufgezwungenen Verstecken wird thematisiert. Das Ziel von Philosophie und Denken überhaupt wird im Sichtbarmachen von herrschaftlichen Systemen der Benennung bestimmt, Veränderung als urbane oder materielle gedacht. Sie schleicht sich ein, ohne zu revoltieren.

Stadt existiert, ist ein Phänomen der Verwitterung, des Bauens, nicht des Sprechens. Gilles Deleuze und Felix Guattari unterscheiden in ihren Tausend Plateaus zwei Prozesse: körperliche Modifikation und körperlose Transformation. Sie nennen als Beispiele einen Tropfen Wein, der sich im Wasser ausbreitet – eine körperliche Modifikation – und die Feststellung: Das Wasser wird rot – eine körperlose Transformation. In beiden Fällen passiert Veränderung, körperlich allerdings über eine Zeitspanne hin und nicht gleich sichtbar, unkörperlich als Entscheidung. Stadt sei im Folgenden als körperliche Modifikation beschrieben, sie füllt die Räume zwischen den körperlosen Transformationen, den Gesetzen, aus. (Vgl.: Deleuze, Guattari 2005: 121)

Um ein sich modifizierendes Medium zu sein, muss Stadt dicht sein – Verbindungselement –in ihrem Arbeiten ist sie als Phänomen der Auflösung von Fixiertem auch immer Kritik, stellt als Verwässerung die körperlosen Transformationen in Frage.

Diese Definition von Stadt ist wie jede andere Definition intentional, sie strebt nach unklaren Räumen, nach Zonen der Offenheit, ist ein Freiheitsversprechen. Zu behaupten Stadt existiert, bedeutet in diesem Kontext das Hervorstreichen der Möglichkeit zur körperlichen Modifikation, von Subversion im Materiellen.

Das Urbane als Lebensform möchte demnach Öffnung von Strukturen bringen, Örtlichkeiten für Konflikt etablieren.

„Das Urbane ließe sich somit als Ort definieren, an dem Konflikte Ausdruck finden.“ (Lefèbvre 1972: 186)

Orte an denen Konflikte Ausdruck finden können – diese Formulierung wirft Fragen auf. Mike Davis beschreibt in seiner Geschichte der Autobombe die in den Metropolen gewachsene Kontrolllosigkeit als Freiheitsversprechen und Möglichkeit zur Aggression. Davis macht klar, dass ein Einschließen des städtischen Raums Angriffe nicht zu verhindern vermag, da vollständige Überwachung nicht umsetzbar ist. (Vgl.: Davis 2007: 193-194)

Zur Aufgabe urbaner Interventionen kann dem folgend das Konzipieren von »Bühnen des Lebens« werden, die dem Sprechen aus dem OFF Forum sind, Rebellion nicht verhindern, sondern frühzeitig und friedlich sichtbar werden lassen. Ich verwende den Begriff Bühne nicht zufällig, sondern um das Vorgeschlagene von der Forderung nach Freiräumen abzugrenzen. Rund um Bühnen entstehen sowohl für das passierende Publikum, sowie für die Akteure_Innen, Zwänge. Das Publikum ist bereit zuzuhören, die Darsteller_Innen wollen ansprechen, das Verhältnis der Parteien muss ein verbindendes sein. Die Forderung nach Freiraum jedoch, zwingt zu Toleranz, anstelle Interesse am Ausdruck anderer Stadtteilnehmer_Innen zu schaffen.

Zwei Aufgaben seien damit umrissen, möchte man urbane Lebensformen ausbilden sowie ein friedvolles Zusammenleben ermöglichen. Erstens, die Erstellung der genannten Bühnen und zweitens braucht es die Debatte um wirkmächtige Formen der Präsentation und Repräsentation auf eben diesen Bühnen.

2.1       Repräsentation als Darstellung

Gayatri Chakravorty Spivak bietet einer europäischen politischen Praxis, in der Einstellung – man möge »dem Arbeiter«die Möglichkeit zur Rede geben und er werde selbst »seine« Meinung äußern – Widerstand. Es sind Michel Foucault und Gilles Deleuze, die in ihrem Gespräch „Die Intellektuellen und die Macht“ dieses Thema aufgegriffen haben und so zum Auslöser Spivaks Kritik – „Can the subaltern speak?“ – wurden. Was sind Spivaks Kritikpunkte? Zuerst fehlt örtliche Verankerung, subaltern Lebende können nicht mehr in Fabriken aufgefunden werden, sie sind zwar manchmal im Zentrum Europas, aber immer in nicht erreichbaren Räumen, verschleierten Existenzgebieten zuhause. Als subaltern beschreibt Spivak Personen, deren Sprechen unverstanden bleibt, deren Identität sich als der Verlust von Identität zeigt. Subalternität macht frei von der Möglichkeit am öffentlichen Gespräch teilzunehmen, da keine allgemeine Sprech- oder Subjektposition etabliert ist, die zum Platzhalter werden kann. Wird Sprechen in diesem Sinne strukturell missverstanden – Sprechpositionen zugeordnet, die Sprechende und Aussagen als unmöglich erklären – bleibt lediglich der Angriff im Materiellen. Kurz gesagt, wenn die Mittel des strukturierten Streitens scheitern, weil die Interpretationsmacht monopolisiert wurde, folgen entweder erfolgreiche Unterdrückung oder friedliche und aggressive Rebellion. Rebellion interessiert sich nicht für Argumente, sondern will Lücken schaffen für völlig neue Diskurse. Spivak sieht damit die Intellektuellen in der Pflicht neue Arten des Repräsentierens zu denken, die es verlangen als Nicht-Stellvertreter_In aufzutreten, den Moment der Aussage sichtbar zu machen. Es stehen nach Spivak zwei Formen der Repräsentation einander gegenüber: Repräsentation als Darstellung versus Repräsentation als Vertretung. Spivak möchte nicht ein Sprechen-für oder an Stelle einer bestimmten Gruppe Menschen vorschlagen, sie fordert:

„Repräsentation als »Re-präsentation«, als »Dar-stellung« bzw. »Vorstellung«, wie in der Kunst oder der Philosophie.“ (Spivak 2008: 29)

Ziel des denkenden Tuns wird damit zu repräsentieren, allerdings nicht im wiedergeben vermeintlicher Aussagen, sondern im Sichtbarmachen von Sprechsituationen. Das Darstellen von Sprechsituationen soll der Fremdkonstruktion von Identität widerstehen, die Stellvertretung mit sich bringt.

Als subaltern sind Menschengruppen bestimmt, die über Differenz nicht Identität sichtbar werden. Repräsentation als Darstellung zeigt materielle Veränderung, sie ist das Erfassen und Beschreiben von konkreten Situationen, alternative Geschichtsschreibung, die sich universellen Aussagen enthält, immer jenes Konkrete darstellt, das noch nicht als Gemeinplatz im herrschenden Diskurs erscheinen kann.

Fraglich wird wie Verbundenheit gedacht werden kann abseits von Identität. Behauptet sei die Gleichzeitigkeit als Form der gesellschaftlichen Verbundenheit. Sie findet ihren Ausdruck lediglich im Kontakt oder Konflikt, der Ankerpunkte braucht. Gleichzeitigkeit kann als virtuelle Verbundenheit gedacht werden, die erst im Ereignis ihren Ausdruck findet. Die Stadt ist ein Ort versammelter Gleichzeitigkeit, sie ist privilegiert das Erscheinen von Besonderem, Existierendem abseits herrschender Beschreibungen, zu ermöglichen.

2.2       Alltägliche Bühnen

Henri Lefèbvres berühmte Forderung »Recht auf Stadt«, zieht seit einigen Jahren weite Kreise. Von widerständischen Bewegungen zu Kunst und Architektur, doch kaum wird sein Werk in der Philosophie beachtet, die allerdings die Disziplin seines Schreibens und Denkens war. Warum ist das so? An dieser Stelle sei nur eine Vermutung angestellt, die lautet, dass es eine gewisse Schmutzigkeit seiner Thesen ist, die nur langsam im akademischen Diskurs anzukommen vermag. Wir wollen nun an dieser Stelle jedoch argumentieren, dass eine gewisse Unreinheit, die Lefèbvres Denken absichtlich zugrunde liegt – soll doch vom Alltag, von der Produktion im und durch Lebendiges gesprochen werden – eine Qualität seiner Texte ist. Im Einfordern einer philosophischen Praxis, im Einfordern der Erschaffung von Raum im Konkreten, ist Lefèbvre ein Philosoph, der nie Halt macht bei gefundenen Erkenntnissen, sie ins Geschehen, ins Urbane zur Überprüfung wirft. Geprägt ist Lefèbvres Denken vom Marxismus, der Struktur gibt, der ein Fundament ist, von dem Lefèbvre sich permanent verabschiedet, um es anders wiederzufinden. Man möge ihn – etwas gewagt – einen phänomenologischen Marxisten nennen. Diese Formulierung soll aussagen, dass es ihm nicht um das sich-Ausdenken von Prinzipien geht, sein Philosophieren möchte konkret sein. In diesem Sinn könnte man behaupten, dass Lefèbvre die vom Marxismus in mancher Ausrichtung beklagte Entfremdung feiert. Dem Denken soll es gelingen die Widersprüchlichkeiten eines Alltags, der nie ursprünglich ist, sichtbar werden zu lassen. Veränderungsgeschichten aus der Alltagswelt zu erzählen, wie in Anlehnung an Spivak formuliert werden könnte.

Recht-auf-Stadt ist die Aneignung des Städtischen, das Einnehmen von Orten, um zu leben. Vor diesem Hintergrund kann ein Recht auf Leben, auf Bewegungsfreiheit, auf Selbstgestaltung und Wohnen – das nationale Grenzen zu suspendieren vermag – mit Lefèbvre gefordert werden. Recht-auf-Stadt meint den Angriff des alltäglich Notwendigen auf die allgemeine Struktur. Dieses Recht auf Stadt verwandelt sich, in das Recht auf Straße, auf Zentralität, auf Differenz, auf das sich-nicht-Definieren-müssen.

„Ganz anders die Stadt. Ihre Tätigkeit besteht sicherlich nicht nur im Verschlingen, im Konsum; sie wird produktiv (Produktionsmittel), in erster Linie jedoch dadurch, daß sie die zur Produktion erforderlichen Elemente zusammenführt. Sie vereinigt alle Märkte (…) Was erschafft sie? Nichts. Sie zentralisiert die Schöpfungen. Und dennoch, sie erschafft alles. Nichts existiert ohne Austausch, ohne Annäherung, ohne Nähe, ohne Beziehungsgefüge also.“ (Lefèbvre 1972: 127; Herv. im Original)

Die Stadt wird so zum zentralen Ort, zu einer Mischmaschine, die es erlaubt, aus der Vielheit der eingebrachten Elemente Neues entstehen zu lassen. Diese Stadt ist streng zeitlich gedacht, sie kann nicht gebaut werden, um zu bestehen, sie ist das spontane Ereignis – ein Fest? – das Verdichtung schafft. Lefèbvre hält sich an Marx und führt die Unterscheidung zwischen zwei Städten ein, einer Stadt des Allgemeinen, wo er die Tauschwerte verortet und der Stadt des Gebrauchswerts – die Stadt der Menschen.[1]

Womit zwei einander gegenüberstehende Welten konstruiert sind. Ein Dualismus der sich beständig aufhebt. Die Welt der Sprache, der Gesetze und Strukturen gibt Situation vor, während die Taktik sich beständig neu zum Aktuellen verhält. Architektur oder Stadtplanung können sich folglich in diesem Kontext positionieren als das Gegebene bestätigend – Situationen werden abgeschlossen, Räume definiert – oder als solidarisch mit den das Bestehende kritisierenden Kräften auftreten, durch das Schaffen vielfach nutzbarer Bühnen.

Lefèbvre möchte in seiner Kritik des Alltagslebens darauf hinweisen, dass es gilt Veränderung eben in diesem Tun zu finden und nicht in entlegenen Welten des Geistes. Er verabschiedet sich unter dem Motto: „Der Mensch wird alltäglich sein oder er wird nicht sein.“ (Lefèbvre 1977: 135) von Revolten, die in ihrer Ablehnung des Bürgerlichen das Leben verabschieden. Subversives Leben soll sichtbar werden, Formen des Lebens, die meist nicht freiwillig gewählt sind, die mit Spivak als subaltern bezeichnet werden können, die ohne Zugang zur Herrschaft einer Gesellschaft sind.

Möchte man das bisher Besprochene zusammenfassen, so ist es die Frage nach der Möglichkeit von unbehauster Kritik, die laut wird. Zweitens, wird die Stadt verpflichtet einen Ort zu beschreiben, der speziellen Lebensweisen, besonderen Lebensweisen, die nicht bereits allgemein und begrifflich ausformuliert sind, Bühne ist. Warum? Da Überlegungen zur Stadt solche sein können, die Herrschaftsstädte denken wollen, Gefängnisstädte und Kolonialstädte, mein Interesse aber allerdings ist, Stadt als einen Ort zu denken, der es erlaubt anders zu werden als man ist, der nicht mehr dazu zwingt sich allgemeine und mächtige Formen des Sprechens anzueignen, sondern eben jene Herrschaftsinstrumente beständig hinter sich lässt, um völlig neue Versuche des Einander-Begegnens zu probieren.

3        Was ist Kritik?

3.1       Hakan Gürses – atopische Kritik

Hakan Gürses stellt sich die Frage nach dem Macht-Werden der Kritik oder nach einer Kritik der Kritik.

Er schreibt über sein Anliegen:

„Es handelt sich um eine reflexive Aufgabe: Der kritische Blick soll sich auf sich selbst richten und sein eigenes Verhältnis zur Macht historisch – in der Perspektive einer Geschichte der Gegenwart – begreifen.“ (Gürses 2008)

Die Kritik soll in ihren Verbindlichkeiten und Abhängigkeiten wahrgenommen werden. Die Kritik kann in ihrem Tun sich verwandeln, zum sich abschließenden Konstrukt werden, so Gürses Beobachtung. Wann endet Kritik, um dem »Wissen« Platz zu machen? Gürses führt in diesem Kontext eine weitere Unterscheidung ein, die zwischen Literaturkritik und Gesellschaftskritik. Er nimmt die Gesellschaftskritik als Thema auf, da er die Literaturkritik näher am Kommentar verorten möchte als im Bereich der kritischen Tätigkeit. Der Kommentar ist der Versuch eine Wahrheit auszusagen, die im Text nicht direkt zugänglich ist. Er möchte die Wahrheit, das Geheimnis des Texts sichtbar machen. Die Gesellschaftskritik oder Kritik, die Gürses beschreibt, hat folglich einen anderen Gegenstand. Womit festgehalten ist, dass es nicht die Aufgabe der Kritik ist die Wahrheit von Berichten und Texten zu bestätigen, allgemeine Aussagen über bestimmte Situationen zu fixieren.

Gürses möchte »Theorien« über die Kritik formulieren. Diese Theorien sind nun keine Kritischen Theorien, Theorien die es durch ihre Methoden vermögen Kritik zu erzeugen, sondern Theorien darüber, was passiert, wenn Kritik passiert. Eine Theorie zu formulieren bedeutet Begriffe fixieren, der Kritik Definitionen zuschreiben, so soll Gürses nicht verstanden werden. Die Kritik beschreibt Gürses als ein parasitäres Produkt ihres Ziels, sie hat ein Anliegen. Erst vor ihrem Hintergrund vermögen Begriffe wie Widerstand oder Kritik ihre Bedeutung erhalten.

„Gewissermaßen fristet die Kritik eine parasitäre Existenz gegenüber dem Ziel, das man erreichen will. Da ich aber nicht alle politischen Ziele theoretisch vorwegnehmen kann, kann ich auch nicht wissen, wie sich die Kritik als ein Vehikel dorthin konstruieren wird. Ich will daher nicht zu einer allgemeinen Theorie der Kritik beitragen, sondern implizite oder explizite Theorien und Praxen der Kritik, die ich kenne, kritisch analysieren – also keine Theorie der Kritik, sondern eine Kritik der Kritik.“ (Gürses 2008)

Eine Kritik der Kritik möchte damit nicht aussagen, wie Kritik funktioniert, wenn sie stattfindet, sondern sie möchte bestehende Kritiken analysieren, oder wie man vielleicht sagen könnte, in ihren Formen untersuchen, um sich nach dem Moment zu fragen, wann sie zu festen Systemen mit Machtanspruch werden konnten.

Gürses nennt drei Merkmale der Kritik: Erstens schafft die Kritik ein Außen, zweitens macht Kritik Geschichte und drittens stattet die Kritik Kämpfe mit Gelehrsamkeit aus. Diese drei Eigenschaften findet Gürses bereits in der historischen Textkritik, die sich dem Verständnis der Bibel zuwendet. Die kritische Methode im Lesen der Bibel unterscheidet sich vom Kommentar, weil sie nicht wie der Kommentar versucht die biblischen Texte zur Gegenwart passend zu interpretieren, um so einen zeitlosen Text zu schaffen, sondern weil es der kritischen Methode um eine Historisierung der Ereignisse geht. Der Kommentar stellt den Text quasi in einen zeitlosen Raum, die Kritik verankert den Text im Außen, das ihm Bedeutung gibt.

„Im Text sucht die kritische Methode zunächst nicht nach Wahrheit, sondern nach dem Sinn. Wenn eine Bibelstelle unverständlich ist, bedeutet das nicht automatisch, dass sich darin eine höhere Wahrheit verberge. Kritik bedeutet das Ende der Allegorie, des mehrfachen Schriftsinns – des Kommentars.“ (Gürses 2006)

Punkt eins: Kritik schafft ein Außen, ungleich zum Kommentar findet die Kritik ihren Fixpunkt außerhalb vom Text, im Kontext der den Text wirklich werden lässt. Diese Umstände werden Sinn-gebend und nicht die Autorität der Methoden oder die Heiligkeit der Autoren. Zweitens macht die Kritik Geschichte. In ihrem geschichtlichen Denken, teilt die Kritik, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein. Es ist der Kritik damit eigen eine verschwommene Vorstellung von der Zukunft zu haben. „Jede Kritik interveniert und öffnet damit ein Fenster, das auf eine verschwommene Zukunft ausgeht.“ (Gürses 2006) Die Kritik bezieht sich auf Geschichte, um Gegenwart zu verstehen, sie nimmt in diesem Anspruch Einfluss auf die Gegenwart und richtet sich auf eine noch unbestimmte Zukunft hin aus. Drittens stattet die Kritik Kämpfe mit Gelehrsamkeit aus, wie Gürses feststellt.

Was ist die Kritik der Kritik?

„Ich schlage indes vor, den Boden zu untersuchen, den sich jede Kritik bereits in ihrem Anfang als eigenen Standort, als eigenen „Sockel“ aufbereitet – einerseits um das Geschehene besser zu sehen, in das sie sich einmischen will; andererseits um selbst gut sichtbar zu sein. [Gürses schreibt unten weiter] Das Außen und die Gelehrsamkeit werden zum Boden der Kritik umfunktioniert.“ (Gürses 2006)

Gürses nimmt folglich an, dass die Kritik ihren Boden in einem Topos findet. Dieser Topos kann eine Theorie sein, Moral oder Normen. Der Topos ist der Kritik Fixpunkt und gleichzeitig Bedrohung. Der Ort der Kritik erlaubt ihr Macht-Werden. Der Boden oder Topos der Kritik wird zum Fundament der Zukunft, die nun nicht mehr verschwommen sein soll.

„Wenn sich die der Kritik eingeschriebenen Ambiguitäten (Außen und Innen; Vergangenheit und Zukunft; Kampf und Gelehrsamkeit) in einen Topos verwandeln – sich als Topos umschreiben lassen –, beginnt die kritische Theorie oder die kritische Bewegung, sich in eine Quelle der Macht umzukodieren.“ (Gürses 2006)

Gürses erstellt im Anschluss eine Topographie der Kritik, um die Frage aufzuwerfen, ob es so etwas wie eine Kritik geben könnte, die sich nicht auf einen Boden bezieht, sondern auf diesen letzten Fixpunkt verzichten kann, um nicht vom Machtstreben der eigenen Theorie eingeholt zu werden. Gürses findet die Bezeichnungen: Topische Kritik, Utopische Kritik und Idiotopische Kritik.

Die Topische Kritik wendet sich hin zu den Maßstäben der Gesellschaft in der sie stattfindet, sie erinnert an die Grundlagen, die das Entstehen dieser Gesellschaft möglich gemacht haben. Sie ist damit eine immanente Kritik, die identitätsstiftend wirken kann und die Grundlagen des Zusammenlebens der betroffenen Gesellschaft oder Gruppe nicht in Frage stellt. Die utopische Kritik entwirft einen Ort von dem die bestehende Gesellschaft aus kritisiert werden kann. Um sich nicht an Normen orientieren zu brauchen, muss die utopische Kritik einen Ort des Lebens ausformulieren, der anders funktioniert als die Gegenwart, dieser Ort muss als einer verstanden werden, der einer höheren Form von gesellschaftlicher Entwicklung zu entsprechen vermag, um die Kritik nicht als beliebig erscheinen zu lassen. Die ideotopische Kritik ist schlussendlich eine Form von Kritik, die perspektivisch argumentiert. Sie findet keinen vermeintlich objektiven Boden in Normen oder einer besseren Form des zukünftigen Zusammenlebens, sondern der Boden dieser Kritik ist das WIR, eine Gruppe, die für sich sprechen möchte, ihr Recht auf Mitbestimmung einfordert. Diese Form von Kritik ist Bestandteil jeder Form von Identitätspolitik.

Wie ist nun die atopische Kritik zu verstehen, die sich von ihren Voraussetzungen nicht vereinnahmen lassen möchte, die versucht ohne Fundament zu sprechen?

Gürses wendet sich an Michel Foucault.

„Schließlich existiert die Kritik nur im Verhältnis zu etwas anderem als sie selbst: Sie ist Instrument, Mittel zu einer Zukunft oder zu einer Wahrheit, die sie weder kennen noch sein wird, sie ist ein Blick auf einen Bereich, in dem sie als Polizei auftreten will, nicht aber ihr Gesetz durchsetzen kann.“ (Foucault 1992: 8-9)

Die atopische Kritik möchte somit niemals recht behalten, verwirklicht werden. Gürses stellt infolge dieser Überlegungen zur atopischen Kritik die Frage nach »dem« Subjekt. Mit der Egalitätsthese des 18. Jahrhunderts beginnt eine neue Art Subjekte zu begreifen. Einerseits wird das Individuum, beispielsweise in seinem Verhältnis zum Staat, zählbar und beschreibbar, sowie andererseits ein autonomes Subjekt der Handlung, des Denkens gefordert wird. Subjekte sind nun folglich durch ihre Indifferenz, sowie durch ihre Autonomie definiert.

„Dem Subjekt wird auf doppelte Weise Identität abverlangt: durch die Annahme des mit sich selbst identischen Ichs und durch das Verschwinden jeglicher sozialer Differenz zwischen Subjekten auf der Abstraktionsebene der Vernunft und der Bürgerschaft. Freiheit und Gleichheit, seit Rousseau stets in einem Atemzug erwähnt, gerieten miteinander allmählich in einen verborgenen Konflikt.“ (Gürses 2004: 141)

Subjekte sind somit autonom handelnd, sie können kreativ schaffen und gleichzeitig sind sie objektiviert, sie können anerkannt werden oder nicht, sie sind beschreibbar und zählbar, sie können als ein fixiertes Objekt betrachtet und erforscht werden. Gürses nimmt an dieser Stelle die These vom Tod des Subjekts auf und stellt dieser These eine gegenüber, die das Subjekt als untotes denken möchte. Man könnte dies nun so formulieren: Das Subjekt ist gestorben, aber immer noch da. Die zentrale Frage, die sich die Gesellschaftskritik nun stellen muss, ist die nach den Nuancen des tot- und lebendig-Seins des Subjekts. Konkret bedeutet dies sich zu fragen, wie tot das Subjekt sein muss, um nicht Herrschaft in Form des universalistischen Denkens auszuüben und wie lebendig es sein muss, um widerständisch zu sein. Anders formuliert: In der Theorie ist man zumeist damit beschäftigt Rechtfertigungen zur Anerkennung kollektiver Identitäten in der Praxis zu finden, eine Praxis jedoch, die man theoretisch nicht denken wollen würde.

Gürses möchte aber allerdings nicht die Spaltung zwischen Theorie und Praxis als Schwierigkeit ansehen, die Kritik immer wieder scheitern und zum Macht-Ort werden lässt, oder die Schwäche in den Menschen suchen, die Kritik versuchen zu üben und dabei nicht konsequent genug zu sein scheinen. Gürses geht es sozusagen darum nachzuschauen, ob in der Kritik selbst Mechanismen stattfinden, die ihr einen Hang zum Machtstreben geben.

Ein Grund nach Gürses warum Kritik vermag zu scheitern – oder besser formuliert: Sich ihrer zu sicher wird – ist die Annahme von nur einem Subjekt, das widerständisch wird und gleichzeitig ein Unterworfenes ist. Die Gesellschaftskritik, so Gürses, hat es nicht mit einem, sondern mit zwei Subjekten zu tun.

„Unabhängig davon, ob wir Gleichheit in Anerkennung oder Anerkennung in Differenz fordern; das Subjekt als unveränderbare Essenz oder als soziales Konstrukt verstehen; eine Politik der Identität oder der Dekonstruktion befolgen wollen – wir haben es mit zwei Subjekten zu tun, die unterschiedlichen Momenten des Politischen entsprechen: Subjekt der Anzeige/Repräsentation und Subjekt der Handlung.“ (Gürses 2004: 149)

Aufgabe eines kritischen Denkens wird es damit nicht ein Subjekt zu beschreiben, sondern die Aufgaben des Subjekts der Handlung zu besprechen, sowie sich nach den herrschenden Repräsentationen zu fragen. Mit Gürses kann damit argumentiert werden, dass das benannte und zu repräsentierende Subjekt nicht ins autonome Handeln kommen kann, da es ein Subjekt durch Unterwerfung ist. Es ist als Beschriebenes. In diesem Sinne besteht im Namen kollektiver Identitäten keine Möglichkeit zur Handlung, es ist nie das Kollektiv, das handelt, da das Kollektiv aus beschriebenen also unterworfenen Subjekten besteht. Ins Handeln kann Mensch nur aus seinen speziellen und individuellen Umständen kommen, die er nicht teilt, in denen er nicht beschrieben ist. Jede/r trägt demnach mindestens zwei Subjekte in sich, einerseits ist sie/er beschrieben und allgemein, andererseits individuell und handelnd. Kritik kann nur dann nicht zu einem Machtkonstrukt werden, wenn sie nicht verallgemeinert, damit ist die Kritik die Ausdrucksform des individuellen Subjekts der Handlung, dessen Einmischung nicht auf andere übertragen werden kann. Diese Subjekte der Handlung können sich nun unter einem gemeinsamen Ziel finden, die individuellen Handlungsgründe doch bleiben unterschiedlich. Diese Formen des Handelns, die sozusagen aus individuellen Umständen passieren und sich auf ein Allgemeines beziehen, können mit Gürses ortlose Kritik genannt werden. Diese Kritik ist momentan, sie wird artikuliert, für ein konkretes Ziel.

„Die ortlose Kritik hat keine normativen Ausweise, keine Lizenz zur Kritik, die sie an AgentInnen vor der Tat austeilen würde. Sie verlangt keine Identitäten, sie verleiht auch keine; sie zielt nicht auf die Bildung eines exklusiven (somit exkludierenden) Clans, dessen Mitglieder von der Geschichte oder einer zukunftsträchtigen Theorie befähigt würden, Ungerechtigkeiten zu bekämpfen, die Gesellschaft zu verändern, Geschichte zu machen.“ (Gürses 2004: 154)

Die Kritik ist damit der Angriff des Subjekts der Handlung auf die Theorie, die Subjekte der Repräsentation definiert.

3.2       Im Zweifel am Allgemeinen

Ermächtigung im Kontext »Stadt«, braucht spezielle Wahrnehmung. Stadt, so Michel de Certeau

„(…) ist nur ein Name. Und die Identität, die dieser Ort verschafft, ist um so symbolischer (auf den Namen bezogen), als es, trotz der Ungleichheit der Positionen und Einkünfte der Einwohner, nur ein einziges Gewimmel von Passanten gibt, ein Netz von flüchtigen, der Zirkulation entzogenen Unterkünften, eine Durchquerung von scheinbar eigenen Orten und ein Universum von gemieteten Orten, die von einem Nicht-Ort oder von geträumten Orten bedrängt werden.“ (de Certeau 1988: 198)

Für de Certeau wird diese Form der Wahrnehmung vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen Orten und Räumen möglich, sowie andererseits mit der einhergehenden Unterscheidung von Handlungen in Strategien und Taktiken. Der Ort ist durch Karten erfasst, besteht aus eindeutig benannten Einheiten, ist ein Paradox in sich, er ist die Materialisierung einer Utopie und damit der unmögliche Zustand schlechthin. Der Ort will dem Gedachten, der Vorstellung Platz schaffen. Der Ort ist ein Umstand, dessen Verwirklichung nur angestrebt werden kann. Der Raum hingegen ist die Verflechtung von beweglichen Elementen. Der Raum entsteht in der Konfrontation mit dem Konkreten. Orte sind definiert, beschrieben. Räume sind momentan als Verhältnisse des sich Begegnenden.

De Certeau bringt das Beispiel der Wegbeschreibung. Eine Wegbeschreibung ist keine Karte, sie passiert räumlich, wir erinnern uns an Verhältnisse und Ereignisse, individuell und ungenau, trotzdem funktionieren Wegbeschreibungen immer wieder. Michel de Certeau argumentiert, dass im Beschreiben Geschichten erzählt werden. Diese Geschichten werden zum Handlungs-Theater. Nicht die Vergangenheit wird zum Plan, sondern aktueller Raum fügt sich durch Erinnerungen. Das Handlungstheater zeichnet sich durch das Finden von situationsgebundenen Bezugs-  und Fixpunkten aus, die es erlauben, gemeinsam in die Vergangenheit zu reisen, eine Verständigungsgrundlage zu etablieren.

„Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. (…) Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht.“ (de Certeau 1988: 218)

Einerseits beschreibt de Certeau den Ort, er ist eine stabile Form von Zuhause, der Ort entspricht der Theorie, die Macht und Wahrheit beansprucht, weniger der Kritik, die Gürses ortlos nennt. Die ortlose Kritik passiert als Handlungs-Theater, möchte Relationen herstellen, ist unbeständig.

De Certeau beschreibt in Folge zwei unterschiedliche Arten des Handelns, zwei Arten Bezug zur Welt zu nehmen: Erstens die Strategie und zweitens die Taktik. Die Strategie verfolgt die Etablierung einer eigenen Ordnung, sie verwendet eigenes Material und kümmert sich nicht um bereits Vorhandenes. Die Strategie folgt einer Logik, die jeden Hintergrund als weißes Blatt, als neutral wahrnimmt, sie ist die Art und Weise der politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Rationalität. Im Gegensatz dazu, nimmt de Certeaus Taktik den Ort der anderen ein, sie schmarotzt am Besitz der Strateg_Innen. Sie ist die List der Schwachen.

De Certeau möchte die Aufmerksamkeit hin auf den Weg richten, der mit jedem Entwurf von Zukunft, Welt, Leben … einhergeht. Der Weg soll Ziele verändern können. Zusammenleben soll als Handlungs-Theater passieren, nicht im Umsetzen von Karten, von bestimmter Geographie. Die Stadt wird mit de Certeau zum Ort jener, die in all ihren Aktionen gefordert sind, neue konkrete Wege zu erfinden, um Alltag zu leben. Im Verwandeln des Gegebenen in Räume, im Erkennen neuer Verbindungen und Formen der Kooperation, liegt die Macht der Subjekte der Handlung, die nicht repräsentiert werden können, weil sie zu beweglich sind, weil »wir« (alle) zu viele sind. Der Stadtmensch kann von fremden Orten profitieren. Die von Massenmedien, Wirtschaft und Politik geprägten Strukturen, werden zum Material seiner Verwandlungen und ihrer Entfremdung.

Führt de Certeau mit seinem Denken in völlige Beliebigkeit? Wie ist Aufklärung möglich, nicht ausgrenzend, sondern in Umarmung des Lebens, des Sich-Bewegenden? Nach Michel Foucault sollte Aufklärung an drei Verhältnissen interessiert sein, dem zu sich selbst, dem zu anderen und jenem zu den Dingen. Immanuel Kant hofft in seinem populären Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ auf die Möglichkeit, von einem Zeitalter der Aufklärung in das aufgeklärte Zeitalter zu wechseln. Ich möchte kurz Kants Anliegen schildern, um anschließend Foucaults Text „Was ist Aufklärung?“ aufzunehmen.

Der Verstand „(…) ist das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken (…).“ (Kant 1974: B76,77 A52)

Der Verstand ist demnach „das Vermögen der Regeln“, während die Vernunft „das Vermögen der Prinzipien“ genannt wird, so Kant. (Kant 1974: B 356 A 299, 300)

Vereinfacht kann damit behauptet werden, dass der Verstand das Vermögen ist, sich entlang von Regeln eine Welt zu erschaffen, während die Vernunft es erlaubt, sich Maximen zu erstellen, denen zu folgen man in dieser Welt für sinnvoll hält. Aufklärung passiert nun Kant zufolge nur, wenn die Menschen beginnen, sich ihres Verstandes ohne fremde Anleitung zu bedienen, wenn jeder sein Vermögen zur Erschaffung einer Welt an seinen durch das Vermögen zur Vernunft erstellten Maximen orientiert. Fraglich wird nun zunächst, in welcher Art von Medium die Gedanken oder Taten eines jeden zum Ausdruck kommen sollen und ob jede Form der freien Artikulation der Aufklärung zuträglich ist. Bei Kant gibt es Grenzen, Aufklärung passiert durch bestimmte Aufklärer, an bestimmten Orten. Um eine Begrenzung des Erlaubten argumentieren zu können, teilt Kant die Formen des Ausdrucks in zwei Arten ein, den privaten und den öffentlichen. Öffentlichen Gebrauch von seinen Gedanken macht nur der Gelehrte, der sich schriftlich an die Leser wendet, die für Kant die Welt repräsentieren (Kant 1977: A 488), während jeder Lehrer seinen SchülerInnen die staatlich anerkannte Meinung weiterzugeben hat.

„(…) der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zu Stande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten, oder Amte, von seiner Vernunft machen darf.“ (Kant 1977: A485; Herv. im Original)

Fest steht in jedem Fall, dass sich die Vernunft nur schriftlich äußern kann. Michel Foucault interessiert nun an Kants Text, dass Kant zwei Zeitalter gegeneinander abzutrennen versucht, das Zeitalter der Moderne, gegen eine dunkle Vorzeit. Foucault zufolge handelt es sich bei dieser Abgrenzung jedoch nicht um eine zeitliche, sondern eine spezielle neue Haltung soll eingeführt werden, eine spezielle Weise, sich auf die eigene Umwelt zu beziehen. Und eben dieses Fordern einer neuen Haltung, einer aufgeklärten Haltung findet Foucault bemerkenswert. Allerdings meint Foucault in Bezug auf seine Gegenwart:

„Es geht alles in allem darum, die in der Form notwendiger Begrenzung ausgeübte Kritik in eine praktische Kritik in der Form möglicher Überschreitung umzuwandeln.“ (Foucault 2007: 178)

Kritik bewegt sich demnach in Richtung Öffnung und nicht Eingrenzung, wie man es bei Kant verstehen kann – Kritik als das Auffinden von notwendigen Grenzen. Bildet die Theorie Begriffe und grenzt ein, so liegt es an der Kritik zu überschreiten. Kritik wird mit Foucault eine Angelegenheit des Besonderen, der besonderen Geschichten, der speziellen Zusammenhänge. Sie kann als das Erzählen von Entstehungsgeschichten stattfinden. In dieser geschichtlichen Forschung soll nun nicht betrachtet werden, was die Menschen denken oder was von ihnen gedacht wird, sondern das, was sie tun. Foucault liegt daran, Lebensformen in ihren Geschichten zu verfolgen. Mit Hilfe des gefundenen geschichtlichen Wissens kann die philosophische Lebenshaltung zum Versuch werden. Sie ist im Nachdenken über das Verhältnis zu sich selbst, das zu den anderen und jenes zu den Dingen. Ein solches Leben wäre nun Foucault zufolge ein der Aufklärung verschriebenes.

Theorie wird damit, möchte sie Kritik ermöglichen, zu einer Form des Geschichtenerzählens, zu einer Beschäftigung mit Umständen, setzt sich mit dem Geworden-Sein der Welt auseinander. Besteht die Gefahr zu beliebig zu werden? Im Gegenteil, gefordert wird völlige Nichtbeliebigkeit, Theorie und Kritik, Subjekt der Repräsentation und Handlungssubjekt sollen lernen im Gespräch zu bleiben.

4        Leben »wir« in besetzten Städten?

Dieser letzte Punkt könnte auch Zusammenfassung heißen, die gestellte Frage klingt bewusst absurd. Städte sind Orte der Überwachung und der Veränderung. Zudem stellt sich die Stadt ihren Bewohner_Innen sehr ungleich dar. Wer immer sich im WIR dieser Frage wiederfinden wird, wird sie in spezieller Weise beantworten. In diesem letzten Abschnitt soll folglich von Gefahren gesprochen werden, von dem bösen Gelüst, Macht über die Geographie zu besitzen. Was hat das mit Stadt zu tun? In der Stadt gibt es zu jeder Zeit solche, die meinen zurecht den Raum zu verwalten – Raum verwalten, aber die Organisation von Menschen meinen – und andere, die verwaltet werden. Diese Struktur zeichnet den Kolonialismus aus.

Edward W. Said: „In dem Sinne, wie ich ihn gebrauchen werde, bezeichnet der Begriff »Imperialismus« die Praxis, die Theorie und die Verhaltensstile eines dominierenden großstädtischen Zentrums, das ein abgelegenes Territorium beherrscht (…)“ (Said 1994: 44) Den Kolonialismus versteht Said als eine Folgeerscheinung des Imperialismus. Kolonialismus bedeutet die konkrete Inbesitznahme von Land. Der Imperialismus ist die Strategie, die es erlaubt ein Imperium zu erhalten, getragen werden muss er von einer Ideologie, die erklären kann, warum es gut ist, dass das Imperium besteht. Die Erstellung dieser Ideologie beschäftigt die Schreibenden, die Reporter_Innen und Künstler_Innen, die alltäglichen Geschichtenerzähler_Innen, die Philosoph_Innen. Das vom Imperialismus als Subjekt der Kolonie benannte Individuum wird mit der Aussicht auf das andere Leben, mit der Aussicht auf Teilhabe am herrschenden System verführt, um Wohlstand höchstens zufällig, zum Preis der Gefangenschaft im Subjekt der Repräsentation, erhalten zu können.

Abschließend: Städtische, urbane … Kritik, Kritik die sich nicht auf Fixpunkte beziehen kann, ortlose Kritik, es sollen zehn Punkte zur Inspiration entwickelt werden. Diese Kritik steht immer einem System gegenüber, das ihre Lebensbereiche sanft oder radikal kolonialisiert. Sie ist das Gegenbeispiel zum Imperialismus. Diese Kritik fordert Edward W. Saids Verständnis von Intellektualismus. Wer sind die Intellektuellen? Welches Tun kann intellektuell genannt werden?

„So etwas wie einen privaten Intellektuellen gibt es nicht; von dem Augenblick an, wo man etwas niederschreibt und veröffentlicht, tritt man an die Öffentlichkeit. […] Meine These lautet, daß Intellektuelle Individuen sind, denen die Kunst des Repräsentierens gegeben ist (…)“ (Said 1997: 18)

„Oder läßt sich die Rolle des Intellektuellen mit mehr Recht als die eines Dissidenten begreifen? Niemals Solidarität vor Kritik – so lautet die kurze Antwort.“ (Said 1997: 39)

Intellektuelles Tun erfordert nach Said die Leistung nicht ganz im Eigenen zu sein, sich distanzieren zu können. Said erwartet von Intellektuellen sich im Exil zu befinden. Exil bedeutet das Leben fern von der Heimat, die jedoch durch beständige Information und Anbindung allzeit präsent ist. Exil möchte Said konkret verstehen, seiner eigenen Biographie entsprechend, aber auch metaphorisch. Exil zeigt sich in jedem Fall als Ferne zu Privilegien und Macht – wenn auch bereits angesprochen wurde, dass eine gewisse Mächtigkeit Intellektueller – sich veröffentlichen zu können – gegeben sein muss. Exil bedeutet beständiges Bewegen, bedeutet ein Leben fern von Gemütlichkeiten und Gewohnheiten. Es ist der vielschichtige Blick, den das Exil erlaubt. Es wird möglich das Gegenwärtige, nicht nur im Kontext der im Moment für einen bestehenden Gesellschaft zu sehen, sondern ebenso vor dem Hintergrund einer anderen Form des Lebens. Die Fähigkeit eine solche Distanz im Denken einführen zu können, erlaubt es die Dinge nicht nur so zu sehen wie sie sind, sondern auch in ihren Entstehungsgeschichten, so Said.

Wovon sollen Intellektuelle leben? Die Alternative eröffnet sich für Said nicht zwischen totaler Rebellion oder völliger Ruhe. Intellektuelle können Berufe ausführen, verdienen vermutlich oft schreibend oder denkend ihr Geld, sollen allerdings in ihrem intellektuellen Tun Amateur_Innen bleiben, um den drei Zwängen des Professionalismus zu entgehen, die Said mit: Spezialisierung, Expertenwissen und unvermeidliche Annäherung an Macht und Autorität – benennt.

Said fordert Intellektuelle auf beständig die Wahrheit zu sagen. Wahrheit? Mit großer Sicherheit wird dieses Wort an vielen Orten nicht gut aufgenommen. Was meint Said? Vielleicht wäre es richtiger so zu formulieren: Said fordert ein, dass es im Konkreten, in bestimmten Situationen, immer wieder Dinge gibt, die wirklich so waren, die passiert sind. In diesem Sinn bedeutet ihm das Suchen nach Wahrheit an eben jenen Theorien, Thesen, Weltbildern und Begrifflichkeiten zu zweifeln, die uns vermeintlich allgemeine Aufklärung versprechen. Es darf keine Autoritäten geben, die im Sinne der Wahrheit die Möglichkeit haben das Gespräch, das friedliche Streitgespräch, zu beenden – zwischen Universalität, Lokalem und Subjektivem sollen sich Intellektuelle, die im Sinne Saids kritisieren wollen, bewegen. Sie nehmen sich der Sache des Besonderen an, schaffen keine Fundamente oder Sicherheiten, irren sich und geben keine Versprechungen, sie nutzen ihre Macht nicht nur repräsentiert zu sein, sondern auch sich – als Kunstfigur – repräsentieren zu können, im öffentlichen Ablehnen eben dieser Macht.

Ich schließe mit zehn von Said inspirierten Punkten, zu einer möglichen Kritik, zum Hören des Besonderen.

  1. Said stellt neue Formen der Religiosität fest, sie drücken sich in allgemeinen Begriffen aus, sind Formen des »Orientalismus« – fassen Besonderes zusammen, um es allgemein besprechen/beherrschen zu können. Kritik kann nach Gürses möglich werden, wenn die Erwartung nicht auf die Subjekte der Repräsentation, die unterworfenen Subjekte, gerichtet ist. Es sind die Subjekte der Handlung, die kritisieren. Das Subjekt der Handlung ist individuell, seine Kritik passiert aus besonderen Umständen heraus. Kritik ist zeitlich gebunden, kann nicht Theorie werden. 
  2. Kritik ist eine materielle – weil mit konkreten Situationen beschäftigte – und aktuelle Angelegenheit, sie bildet nichts Allgemeines, kann sprachlich so auch nicht in ihrer Gesamtheit erfasst werden, sie wird allerdings partiell ausgesprochen.
  3. Fraglich wird, wie das Denken seinen Abhängigkeiten entkommen kann. Said sieht das Denken umgeben vom Streben nach Anerkennung, nach Lohn, oder Gemeinschaft… Im Sinne der Aufteilung in Subjekt der Repräsentation und Subjekt der Handlung, ist diese Frage falsch gestellt, es gilt nicht sich der Abhängigkeiten zu entledigen, sondern zu sehen, dass vollständige Repräsentation oder Abhängigkeit nicht möglich sind. Mit de Certeau gesprochen bedeutet dies die Möglichkeiten zur Taktik zu finden, zum Modulieren der herrschenden Systeme. De Certeau will nicht Material besitzen, sondern sich ungesehen im Hause der Besitzenden einnisten.
  4. Kritik ist eine Form von Denken, die (sich) nicht unterwirft, Verallgemeinerungen meidet. Kritik bleibt so lange unabhängig als sie nicht beweisen will, den Anspruch stellt Theorie zu sein. Das bedeutet nicht, dass die Kritik keine kollektiven Ziele unterstützen kann, sie legitimiert diese Ziele jedoch nicht, sondern unterstützt sie, zu einem bestimmten Zeitpunkt, in einem gewissen Kontext. Die Kritik hat es damit nicht mit der Verwirklichung von Gerechtigkeit oder Freiheit zu tun, wenn sie sich auch unter Umständen dem Streben nach Freiheit oder Gerechtigkeit anschließt.
  5. Said möchte eine weltzugewandte Kritik ausformulieren. Im Anschluss an das oben Angesprochene könnte man nun formulieren: Es geht mit Said um eine Kritik des Besonderen, um eine Kritik von nicht beschreibbaren Orten aus.
  6. Said stellt fest, dass Kulturen der Unterwerfung immer Widerstand hervorbringen. Die Aufgabe der Kritik ist es diesem Widerstand größtmögliche Sichtbarkeit zu verschaffen. Kritik stattet Widerstände mit Gelehrsamkeit aus, wie Gürses angesprochen hat. Die Kritik repräsentiert jedoch nicht diese Widerstände, die Frage der Kritiker_Innen ist vielmehr, wie sie individuell mit speziellen Widerständen zu tun haben könnten oder müssten, wie ihre Kritik im besonderen Kontext zu lauten hat. Die Kritik schließt sich so möglicherweise dem Widerstand an, sie ist aber nicht der Widerstand.
  7. Kritik bedeutet kein Verfallen in gewählte »Familienstrukturen«, auch wenn sich diese Strukturen als kritisch bezeichnen. Kritik ist immer in Richtung des Unbekannten unterwegs, auf der Suche nach der Großzügigkeit, die immer neue Lebensformen und Behausungen denkbar macht, sie selbst findet damit kein Zuhause.
  8. Die Kritik lässt sich nicht vereinnahmen, ist abgeschlossenen Figuren gegenüber wachsam. Oder, mit Foucault, es ist die Aufgabe des kritischen Denkens Entstehungsgeschichten zu schreiben. Die Kritik erfasst die Welt als eine im Entstehen begriffene.
  9. Die Kritik kann sich als die Wiederholung von Umständen zeigen. Jede Wiederholung bringt neue Zusammenhänge ein. Es entstehen überdeterminierte Geschichten. Die Kritik schließt Geschichte folglich nicht ab, sie ist nicht unterwegs in ein aufgeklärtes Zeitalter.
  10. Wie bedeutet Sprache? Wie könnte ein Text der atopischen Kritik aussehen? Das sind Fragen, die sich das philosophische Denken stellen muss, gerne auch das nicht-philosophische. Wollen wir diese Unterscheidung schlussendlich behalten?

Dieser Aufsatz hat mit Fragen und einer These begonnen. Was ist Stadt? Zweitens: Was ist Kritik? Drittens: Leben »wir« in besetzten Städten? Die Arbeitsthese: Stadt ist nie nur besetzt, sowie nie ganz frei, Stadt ist mannigfaltig, sie trägt widersprüchliche Szenarien in sich. Frei sind »wir« (alle) nicht als vernünftige Wesen, sondern in unserer Besonderheit, am Ort der Nicht-Repräsentation.

Am Ende sei eben diese These wieder aufgenommen und in Form einer Aufforderung formuliert. Wollen wir in freien Städten leben, so müssen wir das ganz alltäglich tun. Es genügt nicht die Stadt zu erforschen, Stadt-Denken passiert nicht nur im Verwirklichen von besonderen Projekten. Möchten wir nicht in besetzten Städten leben, so sind wir aufgefordert die Grundlage unserer Handlungen aus Entscheidungen zu bauen, die die Autonomie anderer anerkennen, ja die Verhältnisse zu anderen und anderem in Bewegungen halten. Dieser Text möchte zum Nicht-Ankommen auffordern, zur reflektierten Beweglichkeit. Dieses eben möchte ein Aufstand des Besonderen sein, die Bezeichnungen und Benennungen von Situationen nicht anzunehmen, den Begrifflichkeiten existierend zu entwischen. 

5        Literatur

Certeau, Michel de (1988): Kunst des Handelns. Berlin.

Davis, Mike (2007): Buda’s Wagon: A Brief History of the Car Bomb. London, New York.

Deleuze, Gilles und Guattari, Félix (2005): Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus. Berlin.

Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin.

Foucault, Michel (2007): Was ist Aufklärung? In: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. 171-190. Frankfurt am Main.

Gürses, Hakan (2004): Das „untote Subjekt“, die „ortlose“ Kritik. In: Lust am Denken: Queeres jenseits kultureller Verortungen. 140-158. Köln.

Gürses, Hakan (2006): Zur Topographie der Kritik.URL: http://transform.eipcp.net/transversal/0806/guerses/de[18.10.2018]

Gürses, Hakan (2008): die größten Kritiker der Elche sind heute welche. Oder: Ist eine „atopische Kritik“ möglich? URL: http://transform.eipcp.net/transversal/0808/guerses/de [18.10.2018]

Kant, Immanuel (1974): Kritik der reinen Vernunft I. Immanuel Kant Werkausgabe. Frankfurt am Main.

Kant, Immanuel (1977): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik I. 51-61. Frankfurt am Main.

Lefèbvre, Henri (1972): Die Revolution der Städte. Berlin.

Lefèbvre, Henri (1977): Kritik des Alltagslebens. München.

Marx, Karl (2005): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band: Der Produktionsprozeß des Kapitals. Berlin.

Said, Edward W. (1994): Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Frankfurt am Main.

Said, Edward W. (1997): Götter die keine sind. Der Ort des Intellektuellen. Berlin.

Spivak, Gayatri Chakravorty (2008). Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subaltern Artikulation. Wien.


[1] „Der Gebrauchswert verwirklicht sich nur im Gebrauch oder der Konsumtion. Gebrauchswerte bilden den stofflichen Inhalt des Reichtums, welches immer seine gesellschaftliche Form sei. In der von uns zu betrachtenden Gesellschaftsform bilden sie zugleich die stofflichen Träger des – Tauschwerts.“ (Marx 2005: 50)